Das Leben ist eine Achterbahn

Es reicht mir – endlich. Gerade eben habe ich den zwei Illustrierten gekündigt und meinem Tom versprochen, ihn auf anderem Wege mit Rätseln zu versorgen.  Der Satz „Nichts lenkt so schön von den eigenen Problemen ab wie die intensive Beschäftigung mit den Problemen anderer“ scheint der wichtigste Slogan für die Macher der Rubrik Klatsch & Tratsch in einigen Lifestylezeitschriften zu sein. Sollen  Ängste und beunruhigende Gedanken relativiert oder einfach weggewischt werden, wenn ich erfahre, dass auch die Reichen, Mächtigen und Schönen unserer Erde sich mit ähnlichen Problemen herumschlagen und schlaflose Nächte haben  wie Lieschen Müller aus Kleinkleckersdorf – oder auch ich? 

Um es vorwegzunehmen: Es ist doch eigentlich eine Binsenweisheit, dass Geld, Macht und Talent wenig nützen, wenn Liebe und soziale Bindungen fehlen, wenn die Gesundheit abhanden gekommen, die Trauer nach dem Tod eines geliebten Menschen kaum zu ertragen ist oder das Leben im Alter nur aus Einsamkeit und Stolpersteinen zu bestehen scheint.  Tröstlich scheint mir eher die große Gerechtigkeit im menschlichen Dasein, dass das Leben für jeden endlich ist. Irgendwann und irgendwie trifft es uns alle. Den einen früher, den anderen später.  Und lehrt uns alle nicht auch die Erfahrung, das Leben ist eine Achterbahn? Wer kennt schon ein immerwährendes Glücksgefühl, ein ständig himmelhohes Jauchzen. Das zu Tode betrübt sein, gehört eben auch zum Leben. Nur wer selbst diesen Wechsel der Gefühle kennengelernt hat, kann sich in traurige und verzweifelte Menschen hineinversetzen, sie trösten und Beistand geben. Vor allem kann er sich selbst aus einem Jammertal befreien – ohne sich am Leid irgendwelcher Promis laben zu müssen. Aber ich will an dieser Stelle nicht schon wieder über Resilienz schreiben (ihr wisst vielleicht, er gehört zu meinen Lieblingsbegriffen).

Fast muss ich lachen über meine neunmalklugen Gedanken und dabei ist mir zum Lachen nun wirklich nicht zumute. Die Achterbahn rast zurzeit mit mir durch den Alltag, dass mir schwindlig wird. Und ich mag keine Achterbahn! Nie würde ich freiwillig einsteigen. Nur das gemächlich kreisende Riesenrad liebe ich. Die Weite sehen, den Horizont, die Silhouette einer Stadt erahnen. Aber ich werde nicht gefragt – die Achterbahn ist Pflichtprogramm und kennt kein Tempolimit.

An einem einzigen Tag kam die Beisetzung einer lieben Freundin und der Schlaganfall der 93jährigen Schwester, wenige Stunden später sehe ich fröhliche Fotos auf meinem Handy mit der kleinen Urenkelin, die ihre ersten Gehversuche macht, das Pflanzenpaket für unseren Garten trifft ein und der Verlag teilt mir mit, dass in vier Wochen mein neuer Roman erscheinen wird. Dabei rast die Achterbahn schon wieder in die Tiefe. Die Schwester muss notoperiert werden. Mit dreiundneunzig? Hat sie das wirklich gewollt? Alle drücken die Daumen und halten den Atem an. „Sie erkennt uns nicht, kann nicht sprechen“, so sagen die Kinder, die reihum ihre Mutter besuchen und mich täglich darüber informieren. „Sie soll sich nicht quälen, hatte doch ein gutes Leben. Ohne sie wären wir achtundzwanzig doch überhaupt keine Familie geworden.“ Aber irgendwann ist eben auch für sie die Uhr abgelaufen.

Ich gehe in den Garten, kümmere mich um die Pflänzchen, die in die Erde müssen, schließe Oscar, meinen kleinen Mähroboter, ans Netz, programmiere ihn und rede ihm gut zu, dass er die Stellen mit dem neu angesäten Rasen sensibel behandeln soll. Natürlich begreift er nichts, die KI ist bei ihm noch nicht angekommen, aber es tut mir gut, mit ihm zu reden. Ich genieße den Frühlingsgarten, das Vogelzwitschern und die laue Luft – vor allem aber, dass die Achterbahn im Ruhemodus zu sein scheint. Die richtige Zeit, mich um unsere Pappel zu kümmern. Sie ist uralt, ich denke, sie ist sogar noch ein paar Jahre älter als ich, denn  in diesem Haus mit der Pappel in der Grundstücksecke wurde ich geboren. Als ich ein kleines Kind war, sagte mein Vater immer, wenn es blitzte und donnerte: „Hab keine Angst, die Pappel ist unser Blitzableiter.“ Und wirklich, niemals wurde weder sie noch das Haus von einem Blitz getroffen.

Aber irgendwann wurde sie zur Gefahr für Menschen, das Haus und parkende Autos, besonders wenn schwere Stürme an ihren Ästen rüttelten. Schweren Herzens ließen wir sie rapide kürzen. Und dann? Von unserer geliebten und umsorgten Pappel blieb nur noch ein etwa zweieinhalb Meter hoher Stumpf übrig. Es war ein Bild des Jammers! Das musste die Pappel (ja, durfte sie überhaupt noch diese Bezeichnung tragen? Aber natürlich!!), das musste sie wohl ebenso empfunden haben, denn im nächsten Frühling aktivierte sie alle Lebenskräfte und entwickelte wieder zarte Zweige, die sich bald zu kräftigen Ästen mauserten. Kurioserweise entwickelten sie sich lediglich auf der Sonnenseite, während die Nordseite kahl blieb. 

Unsere Kinder schenkten uns eine kleine Eule, die den Kopf drehen konnte und auf dem Pappelstumpf befestigt wurde. Daneben kam eine Pflanzschale mir rankenden Geranien. Bald richteten sich Bienen, Hummeln und Wespen unter der uralten, aufgeplatzten Borke ein Hotel ein – und die Viertel-Pappel wuchs und wuchs. Wir aber – und besorgte Nachbarn – befürchteten, die einseitige Last würde für die alte Dame bald nicht mehr zu balancieren sein. Wieder kam eine Amputation, besser gesagt, die größten Äste wurden gekürzt. Wir hatten eine Sorge weniger und baten unseren Lieblingsbaum um Verständnis und neuen Lebensmut. Und wir wurden nicht enttäuscht – ihr Leben geht weiter.

Nein, ich werde nicht wieder von Resilienz schreiben. Aber aus Freude und Dankbarkeit habe ich eine Rambler-Rose an ihren Stamm gepflanzt. Meine Vision: Eine Symbiose von rauer, zerklüfteter Borke mit vielen Eingängen für Bienen und Hummeln und zartrosa blühenden Rosenranken, die den Baum umschlingen, ihn umarmen. Jung und alt vereint. Total kitschig, Oder?

Gerade kam ein Anruf eines Neffen. Meine Schwester hat das Schlimmste überstanden. Sie spricht wieder, erkennt ihre Kinder und macht fleißig die Übungen der Therapeuten und Logopäden. Und in wenigen Monaten werden wir ihren vierundneunzigsten Geburtstag feiern – und ich will vorerst nichts mehr hören von Achterbahn und traurigen Lebensgeschichten. Nur über Resilienz denke ich noch weiter nach.

Veröffentlicht von hedera77

Bin ein echtes Ostseekind, geboren in Rostock an der Warnow und noch heute glücklich - hier in meinem Elternhaus. Seit 18 Jahren bin ich im Ruhestand, der alles andere als ruhig ist. Immer noch bin ich neugierig - im Sinne von wissbegierig - und teile gerne meine Gedanken mit anderen denkfreudigen Menschen, egal welchen Alters.

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