Den Tagen mehr Leben geben

Hurra, geschafft! Ich bin dich los. Hab dich in den Pool der Erinnerungen geschoben, gemeinsam mit unzähligen Fotos und mehr oder weniger wichtigen Texten. 2023 – du warst ein schwieriges Jahr für mich – voller Sorgen, Unverständnis und Enttäuschungen, aber auch angefüllt mit vielen Glücksmomenten, die mir vor allem die Familie schenkte. Deshalb, vergessen werde ich dich nie.  
Gestern kamen unsere befreundeten Nachbarn mit einer Flasche Sekt, um anzustoßen auf das alte und das bevorstehende neue Jahr. Wir sind froh, dass wir uns seit Kindertagen kennen und vertrauen und wissen, dass wir uns auch „im Fall aller Fälle“ zur Seite stehen werden. Wieder einmal wurde uns klar, wie wichtig im Alter ein Netzwerk guter Freunde ist, die notfalls helfen, ohne dass Kinder und Enkel von weit her anrücken müssen. 
Nun beginnt das Jahr 2024. Es erscheint mir wie ein Überraschungsei, eine Wundertüte, deren Inhalt erst zum Ende des Jahres voll verstanden wird. Wie gut, dass wir nicht schon im Januar wissen, was wir bis zum Jahresende erleben werden. Wird es den älteren Geschwistern noch gutgehen? Und den Freunden und guten Bekannten, die fast alle bereits die Achtzig überschritten haben? Dass die Kinder, Enkel und die kleine Urenkelin ein gutes Jahr haben werden, versteht sich fast von selbst. Ich vertraue ihrer stabilen Gesundheit und Vernunft.

Dieses Foto aus dem Jahre 1942 fiel mir vor Kurzem in die Hände:

Meine 66jährige Großmutter steht neben ihrem Bruder, vor ihnen sitzt ihre Mutter, meine 89jährige Urgroßmutter. In jenem Jahr wurde ich geboren. Dem Foto fehlen natürlich die sommerlichen Farben, aber auch jegliche Spuren von Fröhlichkeit oder zumindest Zufriedenheit. Liegt dies an der ungewohnten Situation für meine Vorfahren, in eine Kamera schauen zu müssen? Ich weiß es nicht. Uralt wirken sie, zerbrechliche Gestalten mit verhärmten Gesichtern, gezeichnet von schweren Lebensjahren. Sie waren andere Alte als wir heute. Und wir würden einen fatalen Fehler machen, wenn wir heutigen Senioren uns mit unseren Großeltern oder Eltern vergleichen würden.  Oder noch schlimmer, wenn wir uns am Schönheitsideal perfekt aussehender Zwanzigjähriger orientieren wollen. 

„Negatives Denken über das eigene Alter ist Selbstverletzung“, las ich kürzlich. Und „Zwei alte Menschheitsträume, nämlich erstens überhaupt sehr alt zu werden, und zweitens, im fortgeschrittenen Alter einen hohen Anteil an relativ gesunden Lebensjahren zu haben, scheinen sich zunehmend zu erfüllen.“  Wir müssen also umdenken – und nicht nur wir Senioren. Die nachberufliche Zeit wird für die meisten Menschen die längste Phase ihres Lebens sein, auf die wir uns freuen dürfen. Und wir sollten sie nutzen – so gut wir es vermögen. 

Aber es wäre dumm und verantwortungslos, wenn wir unvorbereitet und ignorant in den Tag hineinleben würden. Denn Altern geht mit Verlusten und Funktionseinbußen einher. Unsere Sinne, der Bewegungsapparat, unser Denken verändern sich. Und das geschieht nicht erst, seit wir den Schritt ins Seniorenalter getan haben. Doch wir haben zum Glück in unserem langen Leben auch viel gelernt und Erfahrungen gewonnen. Wir können akzeptieren was nicht zu ändern ist, können kompensieren – also ausgleichen – und wir haben auch gelernt zu verzichten, wenn es nötig ist. Gewinne und Verluste sind ein Wechselspiel. Alles im Leben hat eben seine Zeit. Und die müssen wir nutzen. Jeden Tag. 

Veröffentlicht von hedera77

Bin ein echtes Ostseekind, geboren in Rostock an der Warnow und noch heute glücklich - hier in meinem Elternhaus. Seit 18 Jahren bin ich im Ruhestand, der alles andere als ruhig ist. Immer noch bin ich neugierig - im Sinne von wissbegierig - und teile gerne meine Gedanken mit anderen denkfreudigen Menschen, egal welchen Alters.

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