Erinnerungen mal anders

„Vom Vater hab ich die Statur, des Lebens ernstes Führen. Vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zu fabulieren …“, schrieb Goethe einst und endete mit dem Stoßseufzer: „Was ist denn an dem ganzen Wicht Original zu nennen?“ Zugegeben, nicht immer sind wir glücklich über die Gene unserer Ahnen, denen wir möglicherweise frühe Grauhaare, schiefe Nase, einen bestimmten Charakterzug oder im schlimmsten Fall eine fiese Erbkrankheit zu verdanken haben. Und doch: Was geht uns verloren, wenn wir unsere Wurzeln nicht kennen, wenn die Geschichte unseres Lebens erst mit unserer Geburt beginnt?

Als ich in den Ruhestand ging, beschloss ich, einem Schreibtischfach meines verstorbenen Vaters auf den Grund zu gehen. Er war Kaufmann gewesen und hatte mit großer Gewissenhaftigkeit gesammelt und Buch geführt über alles, was ihm wichtig erschien. Ich sichtete, registrierte, besuchte Friedhöfe und bislang mir unbekannte Dörfer – bis ich schließlich mit dem Schreiben beginnen konnte. Es wurde ein Brief für die Familie, besonders aber für meine vier Enkelkinder. Die Älteste war damals 14 Jahre alt. „Es ist die lange Kette, die ich vor mir sehe, mit vielen Gliedern, bestehend aus euren Vorfahren der letzten Jahrhunderte“, schrieb ich im Vorwort. „Irgendwann komme ich zu euren Urgroßeltern, Großeltern , Eltern – und schließlich zu euch. Und jedes Glied hat etwas dazu beigetragen, dass euer Leben so ist, wie es ist.“ Ich philosophierte noch etwas weiter über die nicht genetischen Einflüsse unseres Lebens, denen wir ausgeliefert oder auch aus dem Wege gehen können und den eigenen Anteil am Lebensglück. Dann aber schrieb ich die Geschichte unserer Familie auf, wobei ich nur einen einzigen Kettenstrang im Auge behielt, der einen ihrer Urgroßväter – es ist mein Vater – betrifft.

Mecklenburger Hallenhaus um 1700 (Freiluftmuseum Klockenhagen)

Als ich auf Seite hundert angekommen war – ich war in meiner Familiengeschichte damals vierzehn Jahre alt, also im Alter meiner Enkelin – schloss ich und versprach eine Fortsetzung. Wichtige Fotos und verschiedene Quellen scannte ich und fügte sie in den Text ein, druckte Seite für Seite fünfzehnfach aus und übergab alles einem Buchbinder, der daraus ein Weihnachtsgeschenk für Kinder, Enkel, Geschwister und Neffen machte. Die Fortsetzung allerdings ruht immer noch auf der Festplatte meines Computers.

Einerseits hat mir diese Art des Erinnerns viel Freude gemacht, andererseits habe ich mich immer wieder gefragt: Weshalb erst jetzt? Wieso habe ich nicht früher besser hingehört, mehr gefragt, mich mehr interessiert für das Leben meiner Vorfahren. Und dann war es zu spät. Ich konnte niemanden mehr fragen.

Veröffentlicht von hedera77

Bin ein echtes Ostseekind, geboren in Rostock an der Warnow und noch heute glücklich - hier in meinem Elternhaus. Seit 15 Jahren bin ich im Ruhestand, der alles andere als ruhig ist. Immer noch bin ich neugierig - im Sinne von wissbegierig - und teile gerne meine Gedanken mit anderen denkfreudigen Menschen, egal welchen Alters.

2 Kommentare zu „Erinnerungen mal anders

  1. …weil die eigene Weisheit, das eigene Verständnis für solche Dinge wachsen muss. Weil man im Leben oft viel zu abgelenkt ist, um sich mit der Familien- und der eigenen Geschichte zu beschäftigen. ❤️

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