Mein geliebter Rudi

Mit gerade einmal 100 km/h schleiche ich über die abendliche Autobahn in Richtung Heimat und lausche auf jedes Geräusch, das mein Rudi von sich gibt. Ich habe Zeit, mich innerlich von ihm, meinem geliebten Corolla, zu verabschieden. Nein, Rudi, so geht es nicht weiter. Ich weiß, du warst stolz wie Bolle, als dir kürzlich die begehrte TÜV-Plakette angeheftet wurde – und das mit neunzehn! Du versprachst mir, auch als Uralt-Senior zumindest zwei weitere Jahre die Treue zu halten – und ich vertraute dir. Aber nun müssen wir vernünftig sein. Auch wenn dein Motorenherz zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk schlägt und alle inneren Organe top funktionieren – so ist es doch unübersehbar, der Rostkrebs frisst an deiner Karosserie und verschafft mir unangenehme Überraschungen.

Rudi, es tut mir in der Seele weh, wenn dein hinterer Kotflügel abzufallen droht und du zu einer Notoperation in unsere Werkstatt-Klinik musstest. Aber danach, lieber Rudi, schien doch alles gut. Oder? Aber was hast du mir vor wenigen Stunden für einen Schreck eingejagt. Wie konntest du nur? Auf der Autobahn, glatte Straße, normales 140er-Tempo, herrliches Wetter, wenig Verkehr: Plötzlich spieltest du verrückt. Ein Geräusch, als wären alle Fenster offen, ein Schurren und Schlagen unter der Motorhaube. Entsetzlich! Hatte ich ein Tier überfahren, das unter dem Wagen um sein Leben kämpfte? Was war das nur? Ich verringerte die Geschwindigkeit, das Geräusch ebbte etwas ab. Anhalten und nachschauen? Aber doch nicht auf der Autobahn! Endlich, die ersehnte Abfahrt wurde angekündigt. In Kritzkow holperte ich auf den Hof der Mecklenburger Landtechnik.

„Er ist zwar kein Traktor, hört sich aber so an“, sagte ich und mein hilfloser Gesichtsausdruck ließen drei plaudernde Mechaniker aktiv werden.

„Oh, er schleppt ja seine Schürze auf dem Boden. Kein Wunder, dass das Krach macht.“

Zugegeben, ich hatte bislang nicht einmal darüber nachgedacht, dass mein Rudi eine Schürze trägt.

„Kein Problem.“ Der freundliche Hiobs-Botschafter lächelte mir aufmunternd zu. „Ein paar Kabelbinder – und er schnurrt wieder wie ein Kater.“ Gesagt, getan.

Die Blumen, die ich eigentlich verschenken wollte, bekam nun mein Retter. Und mein Entschluss stand fest: Rudi, ich werde dich zur Organspende freigeben.

Veröffentlicht von hedera77

Bin ein echtes Ostseekind, geboren in Rostock an der Warnow und noch heute glücklich - hier in meinem Elternhaus. Seit 15 Jahren bin ich im Ruhestand, der alles andere als ruhig ist. Immer noch bin ich neugierig - im Sinne von wissbegierig - und teile gerne meine Gedanken mit anderen denkfreudigen Menschen, egal welchen Alters.

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