So sage ich hin und wieder, wenn die Rede von jemandem ist, den ich zuordnen kann. Aber was heißt kennen? Ich weiß den Namen, habe sie oder ihn gedanklich in eine Schublade gesteckt, auf der ein paar Informationen kleben. Mal mehr, mal weniger. Wir sind uns irgendwann begegnet, manchmal sogar einige Lebenskilometer miteinander gegangen, aber sie oder er sind nicht zu guten Bekannten oder gar Freunden geworden, dafür passte die Chemie irgendwie nicht. Doch manchmal kommt die große Überraschung, das Staunen. Ich habe mich geirrt, mein Schubladenzettel muss ergänzt oder sogar neu beschriftet werden.
Kürzlich erlebte ich das: Ich war mir sicher, SIE einordnen zu können. Ein herber, wenig fraulicher Typ, absolut uneitel. Röcke und Pumps waren tabu, sie war ein Jeans- und Gummistiefel-Typ. Ihre Leidenschaft galt Pferden, Hunden und dem Garten. Mann oder Kinder hatte sie nicht. Punkt. Durch Zufall lernte ich ihr Zuhause kennen. Ja, alles passte. Genauso hatte ich mir ihre vier Wände vorgestellt. Ihre vier Wände? Sprachlos stand ich vor kleinen Kunstwerken, die Flur und Wohnküche schmückten. Waren das Aquarelle? Diese feinen Linien und zarten Pastelltöne, die Auswahl der Bildinhalte … Wer war der Künstler? Ich holte meine Lesebrille aus der Tasche und suchte nach einer Signatur. Nun erst begriff ich, dass ich Stickbilder vor mir hatte. Eine wahre Künstlerin musste sie gearbeitet haben. Als ich nach ihrem Namen fragte, bekam ich ein bescheidenes Lächeln zur Antwort.

Nun wurde ich durch die gesamte Wohnung geführt und kam aus dem Staunen nicht heraus. Nie hätte ich ihr das zugetraut und nie hätte ich vermutet, dass sie auch eine Meisterin an der Nähmaschine war, mit deren Hilfe sie ihre traumhaft schönen Patchwork- und Quiltarbeiten herstellte. Und ich? War ich eine Meisterin der Vorurteile und Klischees? Ich kann nur raten: Seien Sie vorsichtig mit dem Satz „Die kenne ich“. Und lassen Sie sich positiv überraschen. Es macht Freude.