Sonntagsbesuch in Corona-Zeiten

Es wird Zeit, höchste Zeit, dass ich endlich mal aufschreibe, was mir so durch den Kopf geht. Corona – das Wort, das ich am liebsten ignorieren würde, das mir aber ziemlichen Respekt einflößt, hat mich veranlasst, mir unendlich viele Gedanken zu machen über Gott und die Welt. Mehr natürlich über die Welt. Über meine und unsere Welt, die Art zu leben – als Individuum, als soziales Wesen in der Familie, als Europäer und Weltbürger. Über meine Verantwortung für mich und meine Lieben, aber auch für die Mitmenschen … Ich höre auf, denn es wäre müßig, zu beschreiben und zu erklären, denn meine Gedanken werden sich nicht allzu sehr unterscheiden von den Überlegungen, die sich andere Menschen in ähnlichen oder auch ganz anderen Lebenssituationen machen.

Plötzlich brachen alle direkten Kontakte weg zu Kindern und Enkeln, Freunden, Sportkameradinnen und anderen Gleichgesinnten … Wohl dem, der das „Teufelszeug“ Handy, Computer & Co. nicht verflucht hat, sondern beizeiten lernte, es einigermaßen zu beherrschen. Wohl dem, der die Einsicht in Notwendigkeiten gefunden hat, der nicht jammert und bedauert, was eben einfach nicht zu ändern ist. Und wohl dem, der schon vor Corona ein stabiles Netzwerk von Freunden und guten Bekannten gestrickt hatte und vor allem, wo die familiären Bindungen stabil sind, obwohl man nicht Tür an Tür lebt. Und welch ein Glück, wenn man einen Garten hat und es eine enorme Freude macht, das Wachsen und Werden zu beobachten und gleichzeitig Bewegung an frischer Luft genießen kann.

Und endlich kam auch die erlösende Nachricht: Die Familie kann Oma und Opa besuchen. Obwohl … ja, wir wissen es doch: keine Umarmung, Abstand halten, Hände waschen und all dies. Die Familie aus Hamburg machte den Anfang. Tochter, Schwiegersohn und zwei erwachsene Enkelkinder kamen zum Großelternbesuch nach Rostock. „Nur für ein paar Stunden, nur auf ein Käffchen. Wir fahren abends wieder nach Hause. Mach dir keine Umstände. Und kein Umarmen … Mutti, ihr versteht doch.“ Natürlich verstanden wir. Natürlich, wir sind doch alle vernünftig. Jeden Tag sind unsere Lieben mit vielen Menschen zusammen, Hamburg ist schließlich kein Dorf und Homeoffice geht nicht in ihren Berufen. Hauptsache, wir sehen uns, können live miteinander reden und uns überzeugen, dass alles gut läuft in unseren drei kleinen Familien.

Und dann standen sie in der Tür. Endlich. Weihnachten hatten wir uns zuletzt gesehen. Und plötzlich passierte es: Ich schaue meine Tochter an, sie mich – und wie fremdgesteuert fallen wir uns in die Arme. Und gleich darauf passiert dasselbe mit der 23-jährigen Enkelin. Was war das denn? Sind wir nicht mehr Herr – oder besser Frau – unseres Tuns? Ziemlich schuldbewusst sitzen wir danach zusammen. Die Männer hatten mit Abstand das Kaffeegeschirr eingedeckt, aber irgendwie war es ja nun doch egal. Risiko eben. Mit meinen 77 Jahren bin ich bis jetzt bei bester Gesundheit durchs Leben gekommen. Vorsichtig werde ich auch weiterhin sein. Aber welch ein Wiedersehen, wenn diese Umarmungen nicht gewesen wären? Diese kurzen Momente inniger Verbundenheit, die wir in diesem Augenblick dringend gebraucht hatten.

Nein, so sah es bei unserem Wiedersehen natürlich nicht aus

Und morgen werde ich meine Schwester mit dem Auto nach Hause fahren, nachdem sie nach einem Arztbesuch bei mir mir zu Hause gewesen ist. In wenigen Wochen wird sie ihren 90. Geburtstag feiern. Und wir werden dabei sein. Natürlich alle gesund.

Veröffentlicht von hedera77

Bin ein echtes Ostseekind, geboren in Rostock an der Warnow und noch heute glücklich - hier in meinem Elternhaus. Seit 18 Jahren bin ich im Ruhestand, der alles andere als ruhig ist. Immer noch bin ich neugierig - im Sinne von wissbegierig - und teile gerne meine Gedanken mit anderen denkfreudigen Menschen, egal welchen Alters.

2 Kommentare zu „Sonntagsbesuch in Corona-Zeiten

  1. Man muss mit dem Risiko leben lernen… Vorhin joggte eine junge Frau an mir vorbei. Sehr nah. Ich kenne sie nicht. Manchmal ist das Leben anders als die Vorschriften. Ich find’s schön, dass ihr euch so wiedergesehen habt. Mein Verlangen nach einem Besuch bei den Schwiegereltern wächst auch. Weihnachten war wohl bei Vielen das letzte Mal „davor“. Tut mir bloß den Gefallen und bleibt wirklich gesund!
    Alles Liebe
    die Hoffende

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  2. Ja. Genau so muss es sein. Mit Umsicht und gebotener Vorsicht, dann können alle Seiten wieder miteinander umgehen. Wir brauchen das doch… Bleibt gesund!!!

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