Das besondere Silvesterkonzert

In den Achtzigerjahren wohnte ein Jäger mit seiner Familie vis-a-vis von uns. Es war eine schöne Tradition, das neue Jahr mit einem Jagdhorn-Solo zu begrüßen. Er stand auf seinem Balkon und blies, die Nachbarn auf der Straße lauschten seinem Spiel und stießen mit einem Glas Sekt auf weitere gute Jahre an. Irgendwann verzog er, das Haus bekam ein neues Gesicht, der Balkon aber blieb. Jahre vergingen, die neuen Mieter sind schon lange integrierte Nachbarn. Kürzlich kam das Gespräch auf den Jagdhornbläser und sein Neujahrskonzert in vergangenen Zeiten. „War das schön, damals“, schwärmten wir, „aber leider … du bist zwar ein netter Kerl und dein Balkon ist immer noch ein toller Hingucker, aber das Silvesterkonzert fehlt uns wirklich“, jammerten wir. Er sah uns verblüfft an. „Ich weiß ja nicht einmal wie ein Jagdhorn aussieht, geschweige denn, wie ich daraus einen Ton locken könnte.“ Er sah uns zerknirscht an. Wir konnten uns das Lachen kaum verkneifen und wechselten das Thema.

Dem armen Willi aber muss unser Gejammer keine Ruhe gelassen haben, denn wenige Tage vor Silvester bekamen wir eine schön gestaltete Karte, mit der wir eingeladen wurden, dem diesjährigen Silvesterkonzert unter seinem Balkon zu lauschen. Getränke zum Anstoßen seien mitzubringen. So fand sich wenige Minuten vor dem Jahreswechsel eine kleine Gruppe angeheiterter Nachbarn ein. „Was wird er sich nur ausgedacht haben?“, rätselten wir. Die Spannung stieg. Mit dem letzten Atemzug des alten Jahres begann es – das Knallen, Zischen, Böllern rund um uns. Der Himmel bunt voller Raketen. Jubelrufe, Glückwünsche, Küsse … Aber wo war das Konzert? Wir hörten auch nicht den leisesten Ton. Keine Musik, weder Blech- noch Holzblasinstrumente, weder Violinen noch Gitarren waren zu hören.

Plötzlich stand ein strahlender Willi neben uns. „Na, was sagt ihr. War das nicht schön?“ Wir nickten zögernd. „Ich hab’s geahnt“, bekannte er, „die Raketen haben mir die Show gestohlen.“ Nun konnte wir sein trauriges Gesicht schwer ertragen. „Wollen wir genau in zwölf Stunden uns hier wieder treffen und du spielst uns ein Neujahrskonzert vor?“

Und so geschah es. Die Knaller-Nachbarn hatten bereits die Straße gefegt, der Neujahrsbraten schmorte in der Röhre, die Wiener Philharmoniker gaben ihr Konzert im Fernsehen. Wir aber versammelten uns Punkt zwölf auf der Straße und lauschten ergriffen, als „Die Post im Walde“ ertönte. Ludwig Güttler – natürlich auf Tonträger und mit Verstärkern – trompetete so glockenrein, dass die Töne sicher jenseits der Warnow noch zu hören waren. Und Willi und wir waren glücklich.

Veröffentlicht von hedera77

Bin ein echtes Ostseekind, geboren in Rostock an der Warnow und noch heute glücklich - hier in meinem Elternhaus. Seit 18 Jahren bin ich im Ruhestand, der alles andere als ruhig ist. Immer noch bin ich neugierig - im Sinne von wissbegierig - und teile gerne meine Gedanken mit anderen denkfreudigen Menschen, egal welchen Alters.

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